Zwei Hände umfassen einen schlafenden Säugling.

Tatort Kreißsaal: Wenn die Geburt zur Gewalterfahrung wird

Stand: 18.06.2025 05:00 Uhr

Viele Frauen in Schleswig-Holstein erleben unerwünschte Eingriffe und fehlende Selbstbestimmung während der Geburt - mit traumatischen Folgen. Was betroffene Eltern nach einer solchen Geburt tun können.

Von Denise Philippi

Über neun Monate hinweg haben Sie sich auf diesen Tag vorbereitet. Nun hat sich der kleine Fiete endlich angekündigt. Es ist soweit. Es ist ihr erstes Kind, deswegen sind die Eltern nochmal etwas aufgeregter. Dies sollte der schönste Tag in ihrem bisherigen Leben sein - doch für Mutter Wiebke Sommerschuh aus Wattenbek (Kreis Rendsburg-Eckernförde) wird er zum Albtraum.

Dabei hatte sich die heute 35-Jährige extra informiert und dem Krankenhaus vorab mitgeteilt, welche Eingriffe sie auf keinen Fall möchte - darunter der umstritte Kristeller-Handgriff. Im Kreißsaal angekommen, passiert genau das: Bei der nächsten Wehe drückt der Arzt fest auf ihren Bauch, schiebt das Kind nach unten, Wiebke Sommerschuh hat starke Schmerzen. "Ich hab sofort gesagt: 'Stopp! Das möchte ich nicht!' Und der Arzt sagte nur: 'Nicht Stopp, weiter pressen!'" Die Mutter hat Angst, fühlt sich übergangen und hilflos.

Mutter Wiebke Sommerschuh schaut in die Kamera, im Hintergrund ist ein Kinderzimmer mit Spielzeug und Hochbett zu sehen.

Bis zu dem Eingriff war die Geburt ihres Sohnes friedlich, erklärt Mutter Wiebke Sommerschuh. Von den paar Minuten möchte sie sich ihre Erfahrung auch nicht kaputt machen lassen.

Jede dritte Frau macht traumatische Geburtserfahrungen

Und sie ist nicht allein mit dieser Erfahrung. So wie Wiebke Sommerschuh ergeht es vielen Frauen. Unerwünschte Damm- oder Kaiserschnitte, Fixierungen der Arme und Beine, Eingriffe ohne Betäubung - die Beispiele für Gewalt unter der Geburt sind zahlreich. Andere erleben psychische Gewalt wie Drohungen oder Erniedrigungen im Kreißsaal.

Laut dem Verein "Mother Hood" macht bundesweit jede dritte Frau im Zusammenhang mit der Geburt ihres Kindes eine traumatische Erfahrung. Anke Bertram vom schleswig-holsteinischen Hebammenverband sagte auf NDR Anfrage: "Ich neige dazu, zu sagen, dass die Rate in Schleswig-Holstein sogar noch höher liegt." Nach Angaben von Dr. Martina Brügge berichten allein in der Schwangerenambulanz im UKSH Kiel jede Woche ein bis zwei Frauen von Gewalterfahrungen bei vorherigen Geburten.

Betroffene Eltern schweigen und melden Vorfälle oft nicht

"Viele Eltern fühlen sich zunächst hilflos oder sind emotional so erschöpft, dass sie gar nicht wissen, wo sie anfangen sollen", erklärt der Verein "Mother Hood". Dazu kommt laut Hebammenverband, dass viele erst später erkennen, was passiert ist: "Man hat wenig Schlaf, muss sich um das Kind kümmern. Dann fällt das oftmals hinten rüber zu reflektieren: Eigentlich hat mir dies und das nicht gefallen." Manche Eltern trauen sich auch nicht - oder wollen nicht über ihre Erfahrungen sprechen. "Wir kriegen auch oft die Antwort: Ach, ich bin froh, dass ich damit durch bin", so Verbandssprecherin Anke Bertram.

Ein Babyfotoalbum in dem Bilder von Händen und Füßen zu sehen sind.

Die Geburt des eigenen Kindes ist nicht für alle Eltern eine schöne Erinnerung.

Personalmangel, weite Wege und geschlossene Kreißsäle in SH

Ein möglicher Grund für Gewalt unter der Geburt in Schleswig-Holstein ist laut Hebammenverband die sogenannte strukturelle Gewalt, unter anderem durch den Personalmangel und weite Wege. In den letzten zehn bis 20 Jahren sei etwa die Hälfte der Kreissäle im Land geschlossen worden. Eine weitere Besonderheit bilden die Inseln und Halligen: Schwangere auf den Inseln sollen sich 14 Tage vor dem errechneten Geburtstermin aufs Festland begeben. "Frauen werden einfach aus ihrem sozialen Umfeld herausgerissen." Bei einigen sorge das für Ängste.

Schnellere Interventionen bei Geburten und hohes Stresslevel

Ein weiteres Problem in der Geburtshilfe: Es werde schneller interveniert, so der Hebammenverband - auch entgegen des Wunsches der Gebärenden. Kaiserschnitte sind besser planbar und oftmals schneller. "Wir müssen immer noch sehen, was ein Kaiserschnitt wirklich ist, nämlich eine große Bauchoperation, die auch Risiken birgt", ermahnt Sprecherin Anke Bertram.

Geburtshilfe ist Geduldshilfe. Das heißt, der Faktor Zeit spielt eine Rolle. Und Zeit ist Geld. Das ist ein ganz großes Problem, denn ein Krankenhaus muss wirtschaftlich arbeiten.
Anke Bertram, Sprecherin des Hebammenverbandes Schleswig-Holstein

Nach Schätzung des Hebammenverbands betreut eine Hebamme in Schleswig-Holstein rund drei bis vier Geburten zeitgleich. Das hohe Stresslevel kann nach Einschätzung von Hanna Möller, Hebamme im Geburtshaus Bad Oldesloe (Kreis Stormarn), dazu führen, dass das Personal eine Geburt nicht so empathisch begleiten kann wie gewünscht. "Die Kolleginnen sind selber häufig entsetzt darüber, was passiert." Doch sie sieht auch positive Entwicklungen: "Junge Ärztinnen und Ärzte erlebe ich als wesentlich empathischer, die um Erlaubnis fragen, die die Frau auch in einer akuten Situation noch aufklären."

Gebärenden zuhören und Bedürfnisse ernst nehmen

"Manche Frauen brauchen tatsächlich nur persönliche Worte, Zuspruch", meint der Hebammenverband. Bei Frauen, die zum Beispiel in ihrer Vergangenheit Erfahrungen mit sexueller Gewalt gemacht haben, könne es hilfreich sein, dies im Vorfeld anzusprechen, denn die Situation im Kreißsaal könne retraumatisierend sein. Dann kann sich das Personal darauf einstellen.

Das Allerwichtigste ist, die Frauen nach ihren Bedürfnissen zu fragen. Wir entscheiden quasi über deren Köpfe hinweg, was für sie vermeintlich gut ist und was sie brauchen, ohne sie selber zu befragen.
Anke Bertram, Sprecherin des Hebammenverbandes Schleswig-Holstein

Natürlich gebe es Situationen in der Geburtshilfe, wo das Personal schnell und zügig handeln müsse und Eingriffe nicht lange erklären könne, sagt Dr. Martina Brügge vom UKSH Kiel. Wichtig sei ein Bewusstsein dafür, was eine übergriffige Situation sein kann. Wenn die Zeit während einer Geburt nicht ausreicht, um Eingriffe zu erklären, "ist es wichtig, dass wir hinterher in die Kommunkation gehen".

Das können von Gewalt betroffene Eltern nach der Geburt tun

Ein Nachgespräch kann laut der Oberärztin hilfreich sein, damit Eltern nicht das Gefühl haben, übergangen oder nicht gehört worden zu sein. Das würde helfen, besser zu verstehen, warum bestimmte Entscheidungen getroffen wurden. "Viele Frauen wissen auch gar nicht, dass sie Rechte haben", erklärt Anke Bertram vom Hebammenverband. Man könne sich zum Beispiel bei der Krankenkasse, der Klinikleitung oder der Ärztekammer beschweren.

Doch egal, wie sich betroffene Eltern entscheiden, mit ihrer Gewalterfahrung unter der Geburt umzugehen - es gibt kein Patentrezept, was am besten hilft. "Letztendlich empfindet das jeder Mensch für sich individuell", so Bertram.

Unterstützungsangebote bei Gewalterfahrungen unter der Geburt
  • Mother Hood e.V.: Unterstützung durch eine Elterninitiative für sichere Geburtshilfe
  • Hilfetelefon schwierige Geburt: Anlaufstelle bei respektlosem oder übergriffigem Verhalten
  • Krankenkasse: Eine Meldung bei der jeweiligen Krankenkasse ist wichtig, um Verbesserungen im System zu erreichen, da es dort kaum Beschwerden gibt
  • Ärztekammer SH: Auch die Ärztekammer Schleswig-Holstein berichtet von kaum vorliegenden Beschwerden. Daher ist es sinnvoll, Vorfälle zu melden
  • Unabhängige Patientenberatung (UPD): Hier erhalten Betroffene kostenlose Beratung zu Patientenrechten

Dieses Thema im Programm: NDR Fernsehen | Schleswig-Holstein Magazin | 17.06.2025 | 19:30 Uhr