
Sachsen-Anhalt Wolterstorff-Gymnasium Ballenstedt: "Vielfalt kennenlernen, die man nicht sieht"
Das Jüdische Museum Berlin macht Halt in Ballenstedt. Am Wolterstorff-Gymnasium haben Schüler jüdisches Leben kennengelernt. Ein wichtiger Punkt, denn die Schule ist homogen, hat kaum Schüler mit Migrationshintergrund. Das Projekt soll Vielfalt zeigen und ist ein kleines Puzzle im "Kampf" gegen Antisemitismus.
- Die Zahl der antisemitischen Vorfälle in Sachsen-Anhalt steigt. An Schulen gibt es die Kategorie Antisemitismus erst seit 2023.
- Jüdisches Museum kommt ins Ballenstedter Gymnasium: Lehrer möchte, dass seine Schüler verstehen, dass Menschen jüdischen Glaubens Teil der Gesellschaft sind.
- Historiker wollen die Schüler begleiten und unterstützen in ihrer Meinungsbildung. Das machen sie durch das Erzählen von jüdischen Geschichten.
Weiße Handschuhe bestücken vorsichtig einen Glaskubus. Auf dem drunterliegenden Sockel aus lila Samt werden nacheinander Ketten, Armbänder, Kuscheltiere, Basketbälle und Ausweiskarten gelegt. Dann werden die gerade ausgestellten Sachen von einer Gruppe Schülern begutachtet. Was die Gruppe sieht, kennen sie sehr gut, denn die Dinge unter dem Kubus sind ihre eigenen.
"Wir wollen eures mit unserem verbinden", sagt Johannes Schwarz zu den Schülern des Wolterstorff-Gymnasiums in Ballenstedt. Was er damit meint? Die Neuntklässler sollen an dem Tag ihr Leben mit dem von Menschen jüdischen Glaubens vergleichen – und Gemeinsamkeiten und Unterschiede feststellen. Schwarz ist Historiker und für die Bildungsarbeit am Jüdischen Museum in Berlin zuständig.

Die Schüler haben perönliche Gegenstände von zu Hause mitgebracht. Unter dem Glaskubus werden die dann zu etwas Besonderem.
Er und sein Kollege Alex Green sind für die verschiedenen Projekte "ontour" verantwortlich. Dieses Mal waren sie in Sachsen-Anhalt unterwegs und haben jüdisches Leben an Schulen vorgestellt. Das Motto für den Tag ist mehr als nur zu gucken, denn die Schüler sollen selbst zu Stiftern und Kuratoren werden.
Vorfälle von Antisemitismus steigen
Warum die Aufbereitung verschiedener Religionen an Schulen wichtig ist, zeigen aktuelle Statistiken deutlich: Die Zahl der antisemitischen Vorfälle in Sachsen-Anhalt ist 2024 gestiegen. Das geht aus dem Jahresbericht der Meldestelle Rias hervor. Demnach wurden im vergangenen Jahr 202 Fälle dokumentiert. Das entspricht Rias zufolge einem Anstieg um 13 Prozent (178 Fälle) im Vergleich zum Vorjahr.
Wie die Meldestelle mitteilt, waren 86 Personen und in 47 Fällen Einrichtungen von den Anfeindungen betroffen. Unter anderem habe es drei Angriffe, 22 gezielte Sachbeschädigungen und 16 Bedrohungen gegeben. Häufigster Tatort sei der öffentliche Raum. Die meisten antisemitischen Vorfälle müssten dabei weiterhin dem rechtsextremen Spektrum zugeordnet werden.
Und in der Schule? Erst seit Oktober 2023 gibt es die gesonderte Kategorie "Antisemitismus" für die Meldung besonderer Vorkommnisse durch Schulen, heißt es vom Bildungsministerium Sachsen-Anhalt. Bis dahin wurden einschlägige Meldungen in der Kategorie "Verfassungsfeindlicher Vorfall" zusammengefasst.
Seit Einführung der Kategorie "Antisemitismus" gab es im Schuljahr 2023/2024 neun Meldungen und im Schuljahr 2024/2025 bisher sechs Meldungen (Stand 5. Juni 2025).
Lehrer: Schüler sollen Vielfalt kennenlernen
Dass das Museum auch im Harz seinen Stopp einlegt, hat Josef Wutte organisiert. Der Spanisch-, Latein und Englischlehrer ist Betreuer der Arbeitsgemeinschaft "Schule ohne Rassismus, Schule mit Courage" und hat sich beim Jüdischen Museum auf das Projekt beworben. Wutte erhofft sich eine Normalisierung in den Gedanken der Schüler, sagt er MDR SACHSEN-ANHALT.
"Es ist wichtig, dass die Schüler möglichst vieles kennenlernen, was sie zu Hause nicht kennen. Wir sind hier eine sehr ländliche, sehr homogene Schule mit wenig Schülern mit Migrationshintergrund. Das heißt, es ist wichtig, die Vielfalt der Gesellschaft kennenzulernen, die sie hier gar nicht sehen", so Wutte. Sein Ziel ist, dass die Schüler am Ende des Tages auch verstehen, dass Menschen jüdischen Glaubens als deutsche Staatsbürger und Teil der Gesellschaft anerkannt sind.

Josef Wutte ist Lehrer und Leiter der AG "Schule ohne Rassismus, Schule mit Courage".
Es ist wichtig, dass die Schüler möglichst vieles kennenlernen, was sie zu Hause nicht kennen. Wir sind hier eine sehr ländliche, sehr homogene Schule mit wenigen Schülern mit Migrationshintergrund. Das heißt, es ist wichtig, die Vielfalt der Gesellschaft kennenzulernen, die sie hier gar nicht sehen. Josef Wutte | Lehrer Wolterstorff-Gymnasium Ballenstedt
Und genau damit beschäftigen sich die Schüler für mehrere Stunden. Nachdem die Neuntklässler den Mut hatten, ihr Leben gegenüber den Mitschülern zu zeigen, sollen sie nun das Leben von Menschen jüdischen Glaubens vorstellen und selbst eine kleine Ausstellung vorbereiten. In duzenden Kisten finden sie Dinge zu Anfassen und Nachlesen. Die Schüler sollen das "fremde" Leben so selbst erkunden und entdecken können.
Historiker: Geschichten erzählen und damit Akzeptanz erreichen
Johannes Schwarz und sein Kollege begleiten den Prozess. Sie laufen herum, beantworten Fragen. Schwarz ist es dabei wichtig, dass die Schüler lernen die Perspektive zu wechseln, sagt er MDR SACHSEN-ANHALT. "Wir gehen von den Personen aus, von deren Identität und zeigen über eigene Objekte, dass da eine Geschichte dahintersteckt", erklärt Schwarz. Die Schüler sollen so Vielfalt erkennen und dass "Identität nie nur einseitig festzulegen ist", heißt es.
Wir wollen bei den jungen Menschen, die vielleicht auch im Meinungsbildungsprozess sind, unterstützend wirken – gerade in Richtung Akzeptanz des Anderen. Johannes Schwarz | Historiker und Betreuer des Projekts
Zwar machen die beiden Historiker auch Erwachsenenbildung, doch es ist wichtig, gerade Kindern und Jugendlichen mit anderen Religionen bekannt zu machen. "Wir wollen bei den jungen Menschen, die vielleicht auch im Meinungsbildungsprozess sind, unterstützend wirken – gerade in Richtung Akzeptanz des Anderen. Und Judentum ist nicht sichtbar in vielen Teilen Deutschlands oder auch nicht erfahrbar", so der Historiker.

Johannes Schwarz ist Historiker und seit 2008 bei dem "OnTour"-Projekt dabei.
Und so wird die Aula des Gymnasiums Stück für Stück zu einer kleinen Ausstellung über jüdisches Leben. Verschiedene Gruppen haben mehrere Objekte zusammengetragen. Von der Tora bis zum Sporttrikot ist da alles dabei.
Schüler: Projekt ist wichtig, um Toleranz zu schaffen
Am Ende des Tages sollen die Schüler vorstellen, was sie über jüdisches Leben gelernt haben, dabei können die Schüler selbst aussuchen, was sie zeigen und erzählen, was sie selbst bewegt oder wichtig zu dem Thema finden. "Es ist wichtig, über andere Religionen einen Einblick zu kriegen, um erstens mehr zu lernen und zweitens auch zu wissen, wie andere Menschen leben. Und nicht nur, wie man mit seiner eigenen Religion lebt", erzählt die 15-jährige Pia.

Emma (m.l.) und Pia (m.r.) schauen sich Ausstellungsstücke zum Thema jüdisches Leben an.
Ben konnte sich vor allem mit der sportlichen Seite im Leben der Juden identifizieren und erklärt MDR SACHSEN-ANHALT: "Ein gutes Wissen über alle Religionen ist sehr wichtig, denn wir wissen vor allem etwas über das Christentum. Das ist am meisten verbreitet. Wenn man jetzt etwas über die Juden und den Islam lernt, sieht man, was da alles unterschiedlich ist, aber auch was man gemeinsam hat."
Auch Emma, 14 Jahre, findet Projekte wie diese wichtig und wiederholenswert, denn "man muss sich über andere Kulturen informieren, um toleranter zu werden und Falschaussagen zu korrigieren. Es gibt einfach viele Klischees und es ist wichtig, richtige Sachen zu erklären. Sodass auch Menschen die Möglichkeit haben, Fragen zu stellen", sagt sie.
Lehrer hat Sorge um Zukunft solcher Projekte
Am Ende des Tages heißt es wieder zusammenpacken. Der Leiter der Arbeitsgemeinschaft "Schule ohne Rassismus, Schule mit Courage" ist zufrieden mit dem Projekttag. Als Dankeschön gibt es für die Projektleiter Blumen und eine CD, die die Schüler eigens produziert haben.
Wutte selbst hofft, dass noch viele dieser Projekt folgen können: "Ich wünsche mir, dass die Politik uns solche Projekte nicht unmöglich macht und wir nächstes Jahr keine Regierung bekommen, die die Landeszentrale für politische Bildung auflösen will und uns als Schule ohne Rassismus für unmöglich erklären", sagt er.
Ich wünsche mir, dass die Politik uns solche Projekte nicht unmöglich macht und wir nächstes Jahr keine Regierung bekommen, die die Landeszentrale für politische Bildung auflösen will. Josef Wutte | Lehrer Wolterstorff-Gymnasium Ballenstedt
Für die beiden Historiker geht es nun mit dem Tourbus an die nächste Schule. Das Ziel ist dabei immer dasselbe: Für Vielfalt und Toleranz einstehen.
MDR (Maximilian Fürstenberg)