Junge Erzieher sitzen in einem Kreis und an Tischen in einem Klassenraum und reden

Nordrhein-Westfalen Kita-Personalmangel: Fast 4.000 freie Ausbildungsplätze in NRW

Stand: 13.06.2025 20:41 Uhr

NRW bildet zu wenige Erzieher aus, um den Personalmangel in den Kitas zu beheben. Dem WDR liegen dazu exklusiv Zahlen vor.

Von Anne Bielefeld, Martina Koch und Amber Berger

Henning Mengede wollte nach dem Abitur unbedingt Erzieher werden. Aber es war gar nicht so leicht, einen passenden Ausbildungsplatz zu finden - und das obwohl es in ganz NRW an Erziehern fehlt. Doch ohne Beziehungen gehe das fast gar nicht mehr, erzählt er: "Man muss schon Bekanntschaften haben. Bei mir war es meine Mama, die bei dem gleichen Träger arbeitet." Über den Kontakt hat er einen sogenannten Praxisplatz in einer Kita in Gelsenkirchen bekommen und macht jetzt die praxisintegrierte Erzieherausbildung (PIA) am Paul-Spiegel-Berufskolleg in Dorsten.

Viele Kitas bieten keinen Ausbildungsplatz an

Das NRW-Schulministerium hat in den vergangenen Jahren die Schulplätze für Erzieher aufgestockt, doch die sind nicht automatisch mit einem Ausbildungsplatz in einer Kita verknüpft. Im Gegenteil: Viele Träger finden das PIA-Modell nicht attraktiv, weil die Azubis nur zwei Tage in der Kita sind. Hinzu kommt, dass viele Kitas personell so eng besetzt sind, dass sie die Betreuung von Auszubildenden sowie die dazugehörigen Kosten nicht zusätzlich stemmen wollen.

Anspruchsvolle duale Ausbildung

PIA ist vergleichbar mit der dualen Ausbildung im Handwerk, also eine Kombination aus Unterricht und Arbeiten in einem Betrieb, und wird bezahlt. Der Unterschied ist, das die Erzieher-Azubis nach drei Jahren Ausbildung auch einen Bachelor-Abschluss machen. Henning Mengede sagt, ihm falle das Lernen leicht, da er bereits das Abitur gemacht habe und gut organisiert sei. Aber viele in der Klasse hätten nicht damit gerechnet, dass es so viel Theorie sei. Entsprechend hoch ist die Abbrecherquote.

Vollschulische Ausbildung ohne Bezahlung

Mengedes Klassenkameradin Annemarie Rojewski-Peters wollte auch eine PIA-Ausbildung beginnen. Doch sie habe weder in Dorsten noch in den Städten der Umgebung einen Praxisplatz in einer Kita gefunden. Weil sie aber unbedingt mit Kindern arbeiten will, hat sie stattdessen die vollschulische Ausbildung begonnen. Der Nachteil: in den ersten beiden Jahren bekommt sie keine Vergütung. Deshalb hatte die 25-Jährige das Ausbildungs-Bafög beantragt. Doch darauf musste sie neun Monate warten. Sie wohnt deshalb wieder bei ihren Eltern. Das fehlende Geld und die späte Auszahlung des Bafögs sind weitere Gründe, warum Ausbildungsplätze in NRW unbesetzt bleiben.

Aus dem NRW-Schulministerium heißt es gegenüber dem WDR dazu, dass die Verwaltungsstellen für das Ausbildungs-Bafög bei der zuständigen Bezirksregierung aufgestockt worden seien.

Tausende freie Schulplätze

Die Folge: Es werden zu wenige Erzieher im Land ausgebildet. Das Schulministerium hat dem WDR-Magazin "Westpol" auf Nachfrage exklusiv Zahlen für dieses Schuljahr zur Verfügung gestellt. Danach hätten in allen fünf Regierungsbezirken 8176 Schulplätze in den Erzieherausbildungsgängen zur Verfügung gestanden. 2860 Plätze sind frei geblieben. Das entspricht 26 Prozent. Auch am Berufskolleg in Dorsten gibt es weniger Bewerber als Plätze, sagt die Leiterin der Fachschule Friederike Graßhoff. Sie fordert, den Beruf attraktiver zu machen:

Es muss ein Bild geschaffen werden, das den Erzieherberuf attraktiv macht. Wie viele Kinder muss ich betreuen? Wie viele Ergänzungskräfte habe ich zur Verfügung? Das muss alles stimmen - und die Vergütung natürlich auch.

Friederike Graßhoff, Leiterin Fachschule Dorsten

Auch für Kinderpflege zu wenige Bewerber

Das gilt auch für den Bereich der Kinderpflege. Wer einen mittleren Schulabschluss hat, muss vor der Erzieherausbildung eine zweijährige Ausbildung zum Kinderpfleger machen. Das ist vollschulisch oder dual möglich. Aber auch hier fehlen Bewerber, zeigen die Zahlen aus dem Schulministerium für dieses Schuljahr: Von den 5621 Plätzen in allen fünf Regierungsbezirken sind 1075 frei geblieben. Das sind 16 Prozent.

Bis 2030 fehlen bis zu 20.000 Erzieher in NRW-Kitas

Dabei besteht großer Handlungsbedarf. Der Forschungsverbund Deutsches Jugendinstitut/TU Dortmund hat der Landesregierung bereits im vergangenen Jahr durch eine Studie einen enormen Erziehermangel attestiert. Danach könnten bis zum Jahr 2030 bis zu 20.200 Fachkräfte fehlen. Studienleiter Prof. Thomas Rauschenbach ist besorgt, dass derzeit so viele Ausbildungsplätze in dem Bereich frei geblieben sind. Zwar seien viele neue Ausbildungsplätze geschaffen worden. Der Bedarf werde aber auch in den kommenden Jahren noch viel weiter wachsen.

Mehr Erzieher durch eine betreute Ausbildung

Doch es gibt auch kleine Lichtblicke: Die 22-jährige Emily Faßbender macht eine praxisintegrierte Ausbildung als Erzieherin bei der AWO Bonn/Rhein-Sieg in der Kita Farbenspiel in Eitorf. So oft es geht an ihrer Seite: ihre Ausbilderin Birgit Schumacher. Die beantwortet Emilys Fragen und hilft bei Unsicherheiten. Dafür bekommt Birgit Schumacher von ihrem Arbeitgeber extra Zeit und wird dafür auch extra geschult. Der Träger finanziert das derzeit aus eigenen Mitteln für die 18 AWO-Kitas im Raum Bonn/Rhein Sieg.

Josefine Paul, NRW-Familienministerin (Bündnis 90/Die Grünen)

Josefine Paul (Grüne), NRW-Familienministerin

Das Konzept ist erfolgreich: von den Auszubildenden, die jetzt ihren Abschluss machen, wollen viele bleiben. Die AWO fordert, dass das Land solche Konzepte auch finanziell unterstützt. NRW-Familienministerin Josefine Paul (Grüne) will auf WDR-Nachfrage zwar Azubis grundsätzlich besser unterstützen, damit sie ihre Erzieherausbildung nicht abbrechen. Welche Konzepte es dafür gibt, ließ sie allerdings offen.

Gut ein Drittel der Kitas musste Betreuung einschränken

Doch trotz des Engagements führt der Fachkräftemangel auch bei den Kitas der AWO Bonn/Rhein-Sieg dazu, dass immer wieder Betreuungszeiten reduziert oder Gruppen tageweise ganz geschlossen werden müssen. Es gibt insgesamt mehr als 11.000 Kitas in NRW. Davon mussten zwischen Januar und Mai in diesem Jahr 4312 Einrichtungen Maßnahmen wegen Personalmangel ergreifen, zeigen Zahlen des NRW-Familienministeriums. Das sind 38,4 Prozent.

Frust bei Eltern mit Kitakindern

Olga Jabs, alleinerziehende Mutter Portrait

Olga Jabs, alleinerziehende Mutter

Für die betroffenen Eltern ist das eine Zerreißprobe. Olga Jabs ist alleinerziehende Mutter und lebt in Düsseldorf. Ihre 5-jährige Tochter Amelie konnte in den vergangenen Monaten häufig tagelang nicht in die Kita, weil die Einrichtung nicht ausreichend Erzieher hatte. Die Betreuungszeiten sind seit mehr als einem halben Jahr reduziert. Das stellt Olga Jabs vor große Probleme, denn sie arbeitet Vollzeit als Abteilungsleiterin bei einem Pflegeanbieter. Sie hofft, dass die Politik den Erzieher-Beruf attraktiver macht: "Es ist ja keine Option, dass wir alle keine Kinder mehr kriegen, weil es keine Erzieher mehr gibt", sagt sie.

Unsere Quellen:

  • WDR-Anfragen an das NRW-Schulministerium und das NRW-Familienministerium
  • WDR-Abfrage aller Berufskollegs in NRW
  • Interview mit dem Forschungsverbund Deutsches Jugendinstitut der TU Dortmund

Über dieses Thema berichten wir am 15.06.2025 auch im WDR Fernsehen: Westpol, ab 19.30 Uhr.