
Hilfen für psychisch erkrankte Kinder und Jugendliche fehlen
Bis zu sechs Monate müssen psychisch erkrankte Kinder und Jugendliche im Schnitt auf einen Therapieplatz warten, zeigt eine NDR Abfrage - auch in schwierigen Fällen. Kinder und Jugendliche fielen derzeit durchs Raster, sagen Experten.
Psychisch erkrankte Kinder und Jugendliche müssen in Norddeutschland oft sehr lange auf einen passenden Therapieplatz warten. Kliniken in Stadt und Land berichten von durchschnittlichen Wartezeiten von bis zu sechs Monaten, einige sogar von bis zu neun Monaten. Das hat eine NDR-Umfrage unter norddeutschen Kinder- und Jugendpsychiatrien ergeben.
Studie stützt Umfrage-Ergebnisse
Eine Mutter aus Schleswig-Holstein berichtet dem NDR von ihrer jahrelangen Suche nach einem Therapieplatz für ihre Tochter Mia. Immer wieder erhält sie Absagen oder vereinzelte Termine, mal alle vier, mal alle acht Wochen. Die Angststörungen, Depressionen und Panikattacken der 15-Jährigen nehmen zu - Hilfe im ambulanten Bereich findet sie trotzdem nicht.
Mia ist kein Einzelfall, wie eine Studie des Leipziger Uniklinikums zeigt. Im Schnitt warten psychisch erkrankte Kinder und Jugendliche bis zu sechs Monate auf einen leitliniengerechten Therapieplatz. "Das ist für Kinder eine enorm lange Zeit und für Betroffene nicht adäquat", sagt die Autorin der Studie, Kristin Rodney-Wolf.
Nicht behandelte Erkrankungen können chronisch werden
Doch wenn psychische Erkrankungen in Kindheit und Jugend nicht rechtzeitig behandelt würden, sagt die Expertin, bestünde ein sehr hohes Risiko, dass die Erkrankung chronisch werde. Auch könnten weitere psychische Störungen hinzukommen. Diesen Kindern und Jugendlichen hilft dann oft nur noch ein stationärer Klinikaufenthalt - doch auch hier staut es sich.

Kristin Rodney-Wolf plädiert für eine Reform der Bedarfsplanung - basierend auf wissenschaftlichen Daten.
Bedarf angeblich gedeckt
Jede Woche erhalte die Kinder- und Jugendpsychiatrie in Heide in Schleswig-Holstein 30 Anfragen nach einem Therapieplatz von komplex erkrankten Kindern und Jugendlichen, sagt Chefärztin Nadine Scharenberg. Sechsmal mehr als die Klinik derzeit bewältigen könne.
Es fehle an Hilfen im niedergelassenen Bereich, sagt Scharenberg. Im ganzen Kreis Dithmarschen gäbe es keine einzige niedergelassene Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie.
Doch von der Kassenärztlichen Vereinigung in Schleswig-Holstein (KVSH) heißt es, dass der Bedarf an Kinder- und Jugendpsychiatrien zu mehr als 100 Prozent gedeckt sei - und zwar in ganz Schleswig-Holstein.
Schleswig-Holstein: (04551) 30 40 49 31
Niedersachsen: (0511) 56 99 97 93
Mecklenburg-Vorpommern: (0385) 743 18 77
Bremen: (0421) 98 88 58 10
"Bedarfsplanung" in der Kritik
Laut der Forscherin Rodney-Wolf liegt das daran, dass die Bedarfsplanung im Kinder- und Jugendbereich "nicht adäquat" ist. "Es ist eher eine recht willkürliche Festlegung, wie viele Therapeutinnen man braucht", sagt Rodney-Wolf.
Die KVSH betont, in den letzten Jahren habe es regional Zulassungen von Kinder- und Jugendpsychotherapeuten im so genannten "Sonderbedarf" gegeben. Dadurch seien Versorgungslücken geschlossen worden. "Auch die geringe Zahl von Anfragen von Eltern und Jugendlichen bei der Terminservicestelle sprechen für eine akzeptable Versorgung."
Bundesregierung nennt keinen Reform-Zeitplan
Rodney-Wolf sagt, die Bedarfsplanung müsse grundlegend reformiert werden: "Es kann nicht sein, dass die Durchschnittswartezeit auch im ambulanten Bereich sechs Monate ist. Die Bedarfsplanung sollte wissenschaftlich basiert funktionieren." Dafür brauche es systematische Daten zur psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen und zu ihrer Versorgung, sagt Rodney-Wolf.
Die Bedarfsplanung zu reformieren, wäre Aufgabe der Bundesregierung. Im aktuellen Koalitionsvertrag heißt es dazu: "Die Bedarfsplanung passen wir im Hinblick auf Kinder und Jugendliche und auf die Verbesserung der Versorgung im ländlichen Raum an."
Auf NDR Nachfrage heißt es vom zuständigen Bundesgesundheitsministerium, der "anhaltenden Kritik an bestehenden Wartezeiten insbesondere im ländlichen Bereich" sei man sich bewusst. Man beobachte die Entwicklung sehr aufmerksam. Die Bedarfsplanung solle angepasst werden - nur was die Regierung konkret wie anpassen möchte, lässt das Ministerium offen.
"Wir stehen alle mit dem Rücken an der Wand"
Die Kinder- und Jugendpsychiatrie in Heide hat auf die problematische Versorgungslage mit einer eigenen "Ambulantisierung" reagiert: "Wir haben die Möglichkeit, direkt nach dem Ende der Behandlung der Tagesklinik ambulant weiterzuarbeiten", sagt Chefärztin Scharenberg. "Das heißt, dass wir Kinder und Jugendliche möglichst wenig aus ihrem Umfeld rausreißen und möglichst viel Teilhabe ermöglichen."
Doch auch das reicht offenbar nicht aus: "Wir versuchen, das Beste zu leisten, aber wir können gar nicht der Notlage gerecht werden. Am Ende stehen wir alle mit dem Rücken an der Wand und sollen etwas auffangen, was wir gar nicht mehr schaffen können", sagt Scharenberg.
Psychotherapeutischer Bedarf auch nach Corona hoch
Rund ein Fünftel der jungen Menschen ist auch nach der Corona-Pandemie psychisch belastet. Zu diesem Ergebnis kommt die COPSY-Längsschnittstudie, die Ulrike Ravens-Sieberer für die Uniklinik Hamburg-Eppendorf (UKE) herausgegeben hat. "Das sind auf jeden Fall einige Hunderttausende bis zu Millionen mehr als vor der Corona-Pandemie", sagt die Forschungsdirektorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie des UKE. Betroffene litten unter "Zukunftsängsten": Globale Krisen, Kriege, Terrorismus, Klimakatastrophen - all das nähmen sie ungefiltert über ihren täglichen, stundenlangen Medienkonsum auf.

Das Hilfesystem sollte auf betroffene Kinder zugehen und nicht warten, bis diese selbst Hilfe suchten, sagt Ulrike Ravens-Sieberer.
Für psychisch belastete Kinder und Jungendliche brauche es mehr als weitere Therapieplätze: "Ich glaube, auch als Gesellschaft müssen wir erkennen, dass seelische Gesundheit von Kindern keine Privatsache ist. Das hat Priorität und betrifft nicht nur den Einzelnen".
Das unterstreicht auch Chefärztin Scharenberg. Die junge Generation werde nicht gehört: "Kinder und Jugendliche werden Erwachsene und Erwachsene tragen unsere Gesellschaft. Doch kaum jemand hört darauf, was mit dieser jungen Generation ist", sagt sie. "Wir können unseren Teil machen, aber wir brauchen dafür einfach mehr Unterstützung; von der Gesellschaft und der Politik."
Mehr Jugendliche brechen Schule ab
Zu den häufigsten psychischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen gehört laut Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) Überaktivität - neben Depressionen und Essstörungen, vor allem bei Mädchen.

Judit fällt es schwer, auf andere Menschen zuzugehen. Über ihre Erkrankung spricht sie offen.
Judit bekam mit sechs Jahren die Diagnose ADHS, mit 16 kam eine Autismus-Diagnose hinzu. Es fällt ihr schwer, auf andere zuzugehen - so sehr, dass sie in der Schule stark unter Druck stand. Judit erzählt von Druckkopfschmerzen, von völliger Antriebslosigkeit. Erst fehlt sie nur einzelne Tage in der Schule. Dann, kurz vor der Zielgeraden, bricht sie die Schule ab.
Sonderunterricht für "Vermeider"
"Schulabsentismus" heißt das Phänomen: Das bewusste Fernbleiben von Kindern und Jugendlichen von der Schule, auch, weil psychische Erkrankungen es ihnen nicht möglich machen. In den letzten Jahren ist der Anteil an Schulabbrechern in Deutschland wieder gestiegen, laut Bildungsbericht auf rund sieben Prozent aller Schüler.
Das Problem ist bundesweit bekannt. An der Gutenbergschule in Kiel gibt es extra Schulunterricht für "Schulvermeider": "Wir haben die ängstlich vermeidenden Schüler hier, die nicht aus dem Haus und nicht zur Schule gehen können. Nicht, weil sie es nicht mögen, sondern weil es Hemmnisse gibt", erzählt Förderlehrerin Christine Höft.
Was betroffene Kinder bräuchten, sei ein beschützter Rahmen. Nur so könnten Betroffene zurück ins geregelte Schulsystem geführt werden. Schließlich sei Schule auch ein sozialer Raum und wenn der wegfalle, fehle ein wichtiger Aspekt im Leben der Kinder.
Anmerkung: In einer früheren Version des Textes hatte sich das Bundesgesundheitsministerium noch nicht geäußert. Wir haben die Antwort ergänzt.